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Notizen aus der Wortwerkstatt

15. Dezember 2022

Gerade im Sport der SZ gelesen, man wolle einem Sportdirektor „den schwarzen Peter in die Schuhe schieben“. Neulich auch in einem Podcast gehört, wie eine Journalistin kein „Öl ins Wasser gießen“ wollte und dennoch auch das weitere noch sagen musste. Wenn durch sehr persönliche Redewendungen fremde Welten zusammengebracht werden.

13. Dezember 2022

Im Nachruf für den Illustrator Wolf Erlbruch wird ein Interview-O-Ton eingespielt, der seine Arbeitsweise charakterisiert: „Nur auf den Zufall ist Verlass, Planen ist Unsinn für so ein kurzes Leben.“ Einmal mehr: ja und nein. Für mich. Alles ist richtig, auch das Gegenteil. Meine Arbeitsweise als Synthese, ich plane grob, verwirkliche einen Teil und greife bei den Zufällen auf dem Weg immer wieder zu. Damit entsteht im Moment ein Teil des Werks, aber auch der Plan wird ergänzt, umgeschrieben, erweitert. Wieviel vom ursprünglichen Plan am Ende im Buch vorhanden ist, kann ich nicht sagen.

3. Dezember 2022

Titel und Leitmotiv: Sucht oder sucht – Beides gilt. Der alte social-media-Scherz. Großschreibung so wichtig.

3. November 2022

Der Philosoph Frieder Vogelmann zu Gast im Podcast „Das neue Berlin“ zu seinem neuen Buch „Die Wirksamkeit des Wissens“. Er spricht mit dem Blick auf das Wissen zugleich über Wahrheit. Wie lässt sich Wahrheit unabhängig von einer konstruktivistischen Perspektive bestimmen? Wie fassen wir das? Was müssen wir dabei berücksichtigen, wenn wir die verschiedenen Stimmen dieser Gesellschaft hören wollen. Wahrheit nicht als Ergebnis eines sozialen Prozesses. Da merke ich natürlich auf.

23. Oktober 2022

Der britisch-pakistanische Schriftsteller Mosin Hahmid in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung an diesem Wochenende:

Der Leser eines Buchs ist kein Zuschauer, der Leser ist ein Erschaffer. Ich möchte keine Filme schreibe, ich habe mich ganz bewusst dazu entschieden, mich in meinen Büchern von Dialogen zu verabschieden. Dahinter steckt die Frage, was kann ein Roman noch Sinnvolles leisten? Aus meiner Sicht: Vor allem sind Romane abgeschiedene Orte für Leser, um kreative, imaginäre Erfahrungen zu machen.

[..] mein Wunsch, mit anderen in Kontakt zu kommen, wurde immer nur teilweise befriedigt. Dass ich Schriftsteller geworden bin, war ein Weg, damit mein Leben funktioniert. Einersteits, um verstanden zu werden, andererseits, um mit anderen in Kontakt zu treten. […] Es ist unmöglich, wirklich von einer anderen Person verstanden zu werden, es ist auch unmöglich, so umfassend in Kontakt zu treten, wie wir es vielleicht wollen, aber das Verlangen danach ist für mich sehr groß.

Süddeutsche Zeitung, 22./23. Oktober 2022, S. 20

11. Oktober 2022

Heute so unterschiedliche Arbeit an und für drei Bücher. Das Schreiben am neuen Buch. Die PR-Arbeit für das letzte Buch. Und die erneute Lesungs-Akquise für das vorletzte. Einmal mehr zu viel unterschiedliche Arbeit gleichzeitig. Das eine lenkt ab vom anderen. Neulich in irgendeinem Podcast: Gisbert Haefs arbeitet an zwei verschiedenen Schreibtischen. Der eine ist nur dem Schreiben vorbehalten. Auf dem anderen liegen all die begleitenden Arbeiten von Rechnungen bis hin zu Korrespondenzen. Ließe ich mir auch gefallen.

10. Oktober 2022

Russische Raketen auf die Ukraine. Nach langen Wochen erfolgreicher ukrainischer Verteidigung nun Kiew in einer Normalität getroffen, von der ich letzte Woche noch erst als wieder entstanden gelesen habe. Ich setze mich an den Schreibtisch und der Alltag mit meinem Buch geht weiter. Ich schreibe fort. Das Bedrohliche bleibt gebändigt. Ich bändige. Die Geschichte wird fertig. Ich halte Fragen zurück. Wen interessieren psychische Zusammenhänge aus Zeiten des Friedens, wenn es um das Überleben in einem Krieg geht? Das die ganze Zeit verdrängen. Auch das stellt Sinn her. Das Nebeneinander. Zugleich das Leben meines Vaters erfühlbarer durch das Weltgeschehen. Kein gutes Gefühl. Von fern spüre ich Schuld.

29. September 2022

Gleich die letzte der fünf Lesungen meiner kleinen Septembertournee in Bissingheim – Zum Hocker. Diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Befindlichkeiten. Während der Lesung auf der Bühne als Schauspieler meiner selbst vor einem halben Jahr. Die Emotionalität des Buchs performen bei der Lesung. Die Leichtigkeit, das Spielerische der Fußballerinnerungen. Sich nach außen öffnen. Menschen erreichen. Mit meinem Amusement anstecken.

Den Morgen bestimmt der Weg ins Innere. Auch das ist ein Öffnen, aber dem eigenen Empfinden und Denken gegenüber. Der Blick nach außen verliert sich. Alles um mich herum verschwindet. Wahrnehmung der Außenwelt bleibt reflexhaft. Geräusche alarmieren. Vorbeihuschende Schatten irritieren für die Sekunde. In mich versinken heißt auch, die erzählte Vaterfigur als mein Ich auszuprobieren, in ihn hinein zu kommen, in sein Denken, in sein Empfinden. Irgendwie in seinen Kopf kommen, in den Kopf eines Menschen, dessen Krankheit ihn unbegreifbar sein lässt. Ich will ihn fassen. Immer noch spüre ich diesen unbändige Drang, es wissen zu wollen, wie es sein kann, dass ein Mensch derart unterschiedlich in der Welt ist. Zwei Persönlichkeiten – das nüchterne und das betrunkene Ich. Die eine Persönlichkeit scheint nichts von der anderen zu wissen. So mein Erleben.

Aber wie fühlt sich das an mit diesen zwei Seinszuständen in der Welt zu sein? Das wollte ich immer wissen. Wie fühlt er sich? Nichts brachte mir die Ruhe. Diese so trockene Antwort, er war Alkoholiker, er war psychisch krank. Alkoholismus, das ist die Antwort. Mehr gibt es nicht zu sagen. So sprachen Menschen zu mir. Ich wusste, sie hatten recht. Ich fühlte aber, ihr habt keine Ahnung. Ich werde es herausfinden. Er hatte doch ein Ich. Ein Ich für sich. Natürlich gibt es dieses in sich geschlossene eindeutige Ich nur als Illusion in der Begegnung mit dem Gegenüber. Man ist ein anderer mit jeweils anderen. Soziale Rollen. Alles längst auf dem Tisch. Auch ohne Wissen von wissenschaftlichen Konzepten weiß ein sensibler Mensch um die mit unterschiedlichen Menschen gelebten Facetten der eigenen Persönlichkeit. Er war sensibel. So sehr, dass er seine Gefühle zum Schweigen bringen musste? Eine immer gegenwärtige Erklärung für Alkolholismus. Es ging nicht um Facetten oder gar Widersprüche einer Persönlichkeit. Es ging um zwei verschiedene Wesen. Um zwei Menschen in einem. Zwei Gesichter, die anders aussahen.

Diese eine Mal gibt es ja, als etwas in ihm aus beiden Welten sich begegnete. Ich war Ende 30, Anfang 40, kam ins Haus und wusste, ohne ihn gesehen zu haben durch den Zustand des Flurs, er hatte wieder getrunken. Meine Enttäuschung. Erneut. So groß. Warum weiß ich nicht mehr. Er kam aus der Wohnung, schwankte, sprach verwaschen, sein betrunkenes Gesicht. Ich wollte es nicht, doch nach kurzer Zeit brach es heraus, du bist wieder betrunken. Das ist gefährlich für dich. Ich weiß nicht mehr, was alles folgte. Er: du hast keine Ahnung. Was weiß ich. Schließlich ich, ich verurteile dich nicht. Alles ist in Ordnung. Ich weiß, wie es ist. Ich kenne das.

Für einen Moment riss etwas in ihm. Er schluchzte auf, machte einen Schritt auf mich zu, wollte mich berühren. Dann sagte er verzweifelt, nein, nicht Ralf.

Ich beruhigte ihn augenblicklich. Nein, ich trinke nicht zu viel. Ich meine nur, ich kenne die Gefahr. Und schon war alles wieder vorbei. Die Mauer in ihm selbst und vor mir war wieder da. Ich hatte diesen Blick auf seine Verzweifelung nicht aushalten können. Und wieder meine Schuld. Wieder dieses Gefühl, versagt zu haben in diesem einzigartigen Moment. Ihn nicht dort halten können in seiner Offenheit. Im bildhaften und eigentlichen Sinn des Wortes. Ein einziger kurzer Moment in meinem erinnerten Leben mit ihm. Seine Offenheit dem Vorschul-Sohn gegenüber als nüchterner Vater erinner ich nicht mehr.

Heute in mir weiter der unbedingte Wille, mich von der Wirklichkeit nicht kleinkriegen zu lassen. Unmöglich zu wissen, was ein Mensch denkt, was ein Mensch fühlt? Nur seine Worte sind ein Indiz. Unsinn. Ich nehme alles, was ich von ihm kriegen kann und stelle sein Ich für mich her. Was nicht reicht. Es fehlt mir das Empfinden, dass es stimmt. Weil er sich nicht wahrhaftig dazu äußert, was ich zusammen schreibe. Gegen diese Wand renne ich immer noch. Immer wieder neu. Er kann nicht mehr sprechen. Er ist tot.

27. September 2022

Keine Heizung. Die ersten kalten Tage des Jahres vergehen. Sich daran gewöhnen. Das Nachrichtenwissen lässt zögern, am Thermostat zu drehen. Gas und Strom sparen. Die Appelle kommen an. Bei Twitter wird gewitzelt. Noch. Im September. Die Nachrichtenlage. Alles bleibt untergründig wirksam. Erschöpfend.


Ist mein Alltag mit all den Nebengeräuschen Grund für die erzählerischen Kurzstrecken? Der Zweifel an der erzählerischen Einheit ergibt sich aus den Notwendigkeiten des Alltags. Als Entschluss zur Form lässt er sich aber genauso erzählen wie als unüberwindbares Misstrauen in die Geschichte. Ein Misstrauen, das aus Erfahrung entsteht und nicht aus erzähltheroretischen Überlegungen. Dagegen steht die innere Kraft einer schlüssigen, nachvollziehbaren Entwicklung in kurzen Erzähleinheiten.

19. September 2022

Eine Vatergeschichte von Michael Rutschky zufällig im Büchereiregal gesehen, als ich ein anderes Buch von ihm suchte. Auf Verdacht mitgenommen. Vater-Bücher, immer wieder mal. Wie und was machen die anderen? Völlig anderes Ziel, eine andere Generation. Aber auch die Rekonstruktion einer Wirklichkeit. Unabhängig davon wird die ewige Sinnsuche gekitzelt. Ironisch Abstand nehmen. Mittendrin aufblättern und von Flörsheim lesen, wo der Rutschky-Vater jahrelang wegen seines Berufs einige Tage verbrachte. Zum zweiten Mal in meinem Leben begegne ich diesem Vorort von Frankfurt. Einflugschneise, Main und Zufallshalt im letzten Sommer, als wir auf der Rückfahrt vom Schwarzwald den Stau auf der A 3 vermeiden wollten. Mit der Entdeckung, Aziz Ahanfouf ist in Flörsheim geboren, hatte ich den Anfang meiner Erinnerungen an ein Leben mit dem MSV gefunden. Nun Vater Rutschky, Flörsheim zum zweiten. Natürlich lassen sich ungeahnte Verbindungen herstellen. Die Welt kennt gerade eine Menge Verschwörungsgeschichten. Irgendwas Hinterhältiges von denen da oben lässt sich mit dem Aufploppen von Flörsheim in meinem Leben sicher noch entdecken.

12 September 2022

Immer häufiger die Frage, was schreibe ich hier, was schreibe ich dort in der Geschichte? Beide Schreibweisen laufen aufeinander zu. Lassen sich immer weniger trennen. Die Gedanken hier gehören in die Vater-Geschichte. Immer häufiger Reflektionen in der Handlung. Wenn ich rückblickend in den Notizen hier lese, weiß ich nicht mehr, ob ich nicht alles mit rüber nehmen muss. Eine seiner Lieblingsweisheiten: „Alles hängt mit allem zusammen.“ Begleitet von Goethe: „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.“ Und Säulenheiliger Tucholsky „Alles ist richtig. Auch das Gegenteil.“ Mit meinem Wissen von heute: Goethe – die orientierende Handlungsanweisung in einer überfordernden undurchschaubaren Wirklichkeit. Eine Art Horoskop-Spruch durch seine immer mögliche Anwendbarkeit.

11. September 2022

„Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, sondern wie wir sind.“ Vorhin als Denkpause zitiert bei Radio 1. Ein Satz von Anaïs Nin, der tiefsinnig klingt, auf mich aber angesichts von wissenschaftlicher Erkenntnis heute banal wirkt. Sie ist ja nicht die einzige, die sich über die Wahrnehmung Gedanken gemacht hat. Da gab es schon ein paar mehr. Bis dahin, dass in den letzten Jahren viel Wissen über Verzerrungen der Wahrnehmung von Sachbüchern in die Welt gebracht wurde. Daniel Kahnemann hat nur den einen Weltbestseller geschrieben.

Das ist die wahrnehmungspsychologische Grundlage, die das Ich als „sehendes“ Subjekt in der wissenschaflich ausgereiften Form schon durch physiologische Vorraussetzungen beschränkt sieht. Der Satz illustrierte aber vermutlich mehr Fragen der Identität. Das Ich als über die Jahre in der Begegnung mit Menschen gewordenes Erkenntnissubjekt. Das Ich sieht nicht voraussetzungslos und versteht die Dinge in seinem begrenzten Vorwissen.

Deshalb: Wahrheit, also die Dinge, wie sie sind, ergibt sich als soziales Geschehen. Wissenschaft etwa ist ja nicht die Erkenntnis einzelner sondern die Bestätigung der Erkenntnis eines einzelnen durch wissenschaftliche Diskussion, also gemeinschaftliches Handeln. Auch wenn wir gerne die Geschichte immer noch anders erzählen mit dem einzelnen Forscher und seinem Heureka-Moment im Zentrum. Auch im alltäglichen Leben gilt, wer Wahrheit sucht, muss mit Menschen reden und das Verstehen suchen. Der gemeinsame Sinn eines Gesprächs mit dem Wunsch nach innerer Wahrhaftigkeit und der Suche nach Wahrheit ist die best mögliche Annäherung an die Wahrheit.

6. September 2022

Nachtrag zum Nachtrag – Es stimmt nicht, was ich vorgestern geschrieben habe. Das Trennende in erregten Debatten mit den mir sehr vertrauten Menschen kenne ich auch und zwar dann, wenn es um mein Selbst und meine Wahrnehmung geht. Es scheint also so, als gäbe es für mich nur ein sehr viel lokaler bezogenes Gebiet des Trennenden in meinem Atlas der Befindlichkeiten als bei den meisten anderen mir sehr nahen Menschen.

4. September 2022

Nachtrag zu vorgestern – In der erregten Debatte mit mir vertrauten Menschen spüre ich meine Lebendigkeit. Dabei empfinde ich mich selbst im Gemeinsamen, mein Gegenüber trotz aller Vertrautheit nur selten. Gehört wird die trennende Meinung und die Auseinanderbewegung empfunden. Dabei lebe ich im Moment des Sprechens ewige Verbundenheit. Nichts in mir weist auf Trennendes. Alles ist das gemeinsam Ewige. Anders als in solch großen Worte lässt sich dieser Zustand nicht aussprechen. Dialektik. Für mich keine Denkfigur, sondern etwas Wesenhaftes, durch frühes Erleben Entstandenes.

Ich musste damit umgehen, die Distanz zu meinem Vater auszuhalten. Es gab etwas, was mich mit ihm weiter verband.


Dem einen so, dem anderen so: „Donatello reizt nicht das Wahrhaftige, er sucht das Uneindeutige.“ Einordung in der ZEIT zu dem Bildhauer des 15. Jahrhunderts. Mit dem Gegenteil begonnen, doch je länger ich schreibe, desto mehr sollen manche Szenen auch das Schweben ermöglichen. Das Ideal: Vordergründig eindeutig, beim zweiten Hinsehen öffnet sich die Wirklichkeit ins Offene.

2. September 2022

Wie mir apodiktische Aussagen widerstreben, wenn ich sie in Interviews lese, und ich sie selbst bei jedem erregten Debattieren ausspreche.


Und einmal mehr eine Vater-Geschichte, die mir begegnet. Vorher flüchtig gesammelt, jetzt sehe ich natürlich jede, die mir begegnet – Ferdinand von Schirach.

Süddeutsche Zeitung Magazin, 2. 9. 2022

Zum Ton dieses Interviews mit seinem statischen Gefühlszustand des Autors passen die letzten Sätze einer Besprechung seines neuen Buchs neulich in der in der SZ.

Dieses Gefühl, die Welt von einer Position gepolsterter Isolation zu betrachten, ist wahrscheinlich verbreiteter, als man glaubt, und Ferdinand von Schirach ist sein Prophet. Die rätselhafte exquisite Traurigkeit des Erzählers, die all seine Erzählungen grundiert, ist in diesem Sinn kein existentieller Ausdruck einer universellen Verlorenheit in einer kontingenten Welt oder einer romantischen Melancholie angesichts des Todes.

Er ist viel konkreter ein Ausdruck des Bedauerns, keinerlei sinnstiftende Verbrindungen zur Außenwelt herstellen zu können, eine seufzende Abwendung ins Innere. Diese persönliche und – weil sie so eng mit dem eigenen Stand verwoben ist – auch gesellschaftliche Tragödie [usw.]

Süddeutsche Zeitung, 25. August 2022

Damit erfasst der Rezensent einen Zustand beim Schreiben in seiner individuellen psychischen Beschränktheit, die der Autor im Interview ins Absolute, allgemein Menschliche steigert. „Die Beschäftigung mit sich selbst führt in den Abgrund“, sagt von Schirach und scheut sich nicht davor, die eigene Erfahrung zu überhöhen. Er weiß mehr als der Journalist. „Glauben Sie mir“, fügt er hinzu. Das wollen sie nicht kennenlernen, sagt er dann doch nicht. Aber es entsteht der Eindruck, er hat alles gesehen, was man sehen muss, um diese Welt zu begreifen. Er klingt so, als meine er für alle Menschen mitsprechen zu können. Aus dem eigenen Scheitern beim Versuch, den Schmerz seines Lebens in einem gemeinsamen Da-Sein zu mildern, möchte er zu einer existentialistischen Einsicht machen. Ich nenne das pseudo-existentialistisch.

Im Nachhinein weiß ich nun, warum mich seine ersten zwei Bücher, diese Bestseller-Fallgeschichten von Verbrechern, so genervt haben. Damals habe ich das nicht genauer benennen können. Ich empfand sie als so langweilig und habe nicht weiter drüber nachgedacht. Mit diesem Satz im Interview liegt mir die Erklärung jetzt auf der Hand. Dieser Anspruch, über den Einzelfall hinaus, sage er etwas allgemein Menschliches, klang damals für mich schon an. Ein uneingelöster Anspruch für mich. Vielleicht, weil er sich für das allgemein Menschliche nicht aus seiner psychischen Isolation hatte befreien können. Das als Voraussetzung für das auszuübende Handwerk Schreiben. Spekulierend. Der Blick auf die Literatur. Sie lässt sich auch ohne diese Spekulation bewerten. Diese kurzen Geschichten erzählten mir nichts. Sie blieben mir Panoptikum. Nicht mehr als die Bestätigung dessen, was ich weiß. Wir Menschen sind zu allem fähig.

22. August 2022

Regelmäßig Berichterstattung im warnenden Ton. Die Folgen für die Gesundheit. Alles ganz schrecklich. Ich weiß.

Arbeitet da eine journalistische Minderheit gegen die Wirklichkeit an? Ein aufklärerisches Aufbäumen gegen das Dauertrinken der Gegenwart. Diese Gesellschaft hat jedenfalls eine andere Form für das Trinken gefunden, als in der Jugendzeit meines Vaters. Auf den Straßen enttabuisiert das öffentliche Trinken von Flaschenbier ab dem Nachmittag. Als ich mich Ende der 1980er Jahre mit einer Flasche Bier in Köln am frühen Abend an den Rhein setzte, war das ein Bruch mit den Sitten. Dazu brauchte ich nicht viel Überwindung. Aber außer mir trank keiner dort. Öffentliches Trinken war Obdachlosen und Randfiguren der Gesellschaft vorbehalten. Am Abend war es dann schon eher möglich, wenn auch noch nicht weit verbreitet. Das eigene Trinken als Teil der Geschichte.


Zum ersten Mal begegnet der sechsjährige Enkel dem Großvater, als der angetrunken ist. Entweder hatte er gerade begonnen oder sein Zustand war der Restalkohol vom Vortag. Meine Erstarrung beim Öffnen der Tür. Die vermeintliche Normalität bei dem Besuch. Diese bedrohliche Lähmung in mir. Diese Überforderung. Doch mein Sohn in seiner naiven Freude vor meinem Vater, dessen Zustand mir unangenehm war. Nicht wissend, wie ich mich verhalte. Was ist richtig? Was ist falsch? Kein Vorbild für diese Situation, von der ich gewusst hatte, dass sie kommen kann.

Vor diesem Tag die Hoffnung: wenn er seinen Enkel besucht, wird er nie trinken. Das war bis dahin so gewesen. Sein Enkel war sein Glück. Und umgekehrt war für den Enkel der Großvater reines Glück. Welche Freude, wenn er ihn sah. Ich war so froh, das sehen zu können. Dass das meinem Vater möglich war. Das Trinken dennoch an jenem Tag. Die alte Erfahrung. Meine Erfahrung, nicht die meines Sohns. Nach dem Besuch vorsichtig mit dem Sohn sprechen. Der Tag war verlaufen wie sonst auch. Mit Ausnahme meiner Erstarrung. Vorsichtig fragen, ob ihm was komisch vorgekommen sei.

Irgendwann spreche ich doch aus, was ich nicht habe unbedingt aussprechen wollen. Ich wollte die Innigkeit des Miteinanders von Enkel und Opa nicht stören. Doch ich will erklären. Wie ein Zwang dieses Erklären. Zugleich ein unsicheres Gefühl, den Sohn schützen zu müssen. Aber wovor? Alles war wie immer. Jahre später meint mein erwachsener Sohn, an dem Tag mit dem betrunkenen Großvater habe es erstmal nichts gegeben, worüber er sich als Kind Gedanken gemacht hatte. Erst als ich darüber gesprochen hätte, habe sich sein Empfinden dem Großvater gegenüber verändert. Was bedeutet das für die Geschichte? Erst als ich darüber sprach. Etwas geschah, dessen Wahrheit im Moment des Erlebens nicht mehr erfahrbar ist. Die grundsätzliche Frage nach Wahrheit der Erinnerung. Wir kommen da nicht ran. Alles ist immer neues Erleben. Erinnern ist neu erleben und damit mögliche Veränderung durch den Moment der Erinnerung.

Mit jedem Tag ohne Alkohol wurde die Hoffnung größer, alles ist für immer überwunden. Zugleich bleibt etwas Ungreifbares, das stört. Ein immer währendes Misstrauen bleibt schwebend vorhanden. Es berührt die Hoffnung nicht wirklich. Diese Hoffnung bleibt gleich stark. Wie verhält sich dieses Misstrauen zur Hoffnung? Sprachlich nicht gelöst. Ein bislang nicht vermitteltes biografisches Wissen.

21. August 2022

Im vorletzten Zeitmagazin erzählt die Schriftstellerin Karen Köhler von ihrem Verhältnis zu dem Besitz ihres unlängst verstorbenen Vaters. Sie denkt über ihren Umgang mit dem Nachlass nach. Was machen die Gegenstände mit ihr. Was wird sie mit den vielen Gegenständen machen? Was bewahrt sie auf? Wie gelingt es ihr auch von den Gegenständen Abschied zu nehmen. Sie erfindet sich eine „Trauer-Wohnung“, in der sie Abschied hätte nehmen können. Eine Wohnung, in der sie erst einmal alles hätte einräumen können, das Gefühle in ihr weckte.

In gewisser Weise habe ich ihr Vorhaben beim Tod meines Vaters verwirklicht. Unzählige Kisten gepackt, die nun noch immer gepackt im Büro stehen. Ihr ging es aber um etwas anderes als mir. Sie hatte „plötzlich Angst davor, meinen Vater eines Tages nicht mehr zu erinnern. Oder falsch zu erinnern. Etwas wichtiges von ihm zu vergessen. Seine Stimme. Seine Bewegungen. Seinen Geruch.“ Mir ging es nicht um Erinnerungen. Ich wollte überhaupt nur wissen, wer er wirklich war. Ich wollte wissen, wie diese zwei Menschen, die ich in ihm kannte, eins sein konnten. Ich wollte sein Ich erkennen in all dem Papier, was er gesammelt oder beschrieben hatte. Jedes Wort schien mir wichtig. Jeder Notizzettel hätte mir das Geheimnis offenbaren können. Ich nahm wahllos alles mit.

18. August 2022

Die andere klassische Vater-Geschichte neben dem abwesenden Vater. Der überehrgeizige Vater, der sein ungelebtes Leben im Sohn verwirklichen will. Der Vatermord dann im Krimi. Hier reichte ein anderer Trainer.

Süddeutsche Zeitung, 18. 8. 2022, S. 24

27. Juli 2022

All die Notizen hier eine zweite eigene Geschichte. Auch damit lässt sich die Beziehung erzählen. All das Nachdenken, wie zu erzählen ist, macht das Wesen der Geschichte aus und bestimmt ihren Sinn; jeder flüchtige Gedanke, der diesen Weg kreuzte. Alles fließt in das Erzählte ein, formt sich und fügt sich in eine Stelle des Erzählten, die für diesen Moment unaufhebbar ist. Schauen wir, wie die Geschichte morgen erzählt wird.

17. Juli 2022

„Stufen der Nähe“, der Untertitel ein Versprechen, das von mir als fehlerhaft empfundene Fühlen in eine Bahn zu lenken, die meinem Miteinander mit B. Stabilität verleihen sollte.

Trügerische Erinnerung. Zunächst. Gestern. Einmal mehr. Meine Erinnerung jetzt mag noch immer nicht dem damals Erlebten entsprechen, aber es nähert sich dem mehr an als die ersten Gedanken nach dem Auftauchen des Namens Tilman Moser.

16. Juli 2022

Auf dem Weg nach Dijon. Während der Fahrt schweifende Gedanken. Tilman Moser plötzlich im Sinn. Die Frage beschäftigte mich, begannen mit Tilman Moser meine gezielten Versuche durch psychologisches Wissen, das Leben besser zu verstehen? Mich besser zu verstehen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht als erstes Orientierung für das Leben suchte. Wie bewältige ich das Leben?

„Familienkrieg“ war doch nicht das erste Buch von ihm, das ich kaufte. Aber es war mein erstes Buch, mit dem ich das Aufwachsen in diesem ständigen Streit in seinen Auswirkungen auf mich zu begreifen versuchte. Warum machte ich das? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das kaufte. Ich erinnere mich aber an die Umstände.

Dieser wunderbare Erdgeschossraum bei Atlantis, der mich anfänglich mit seinen Zeichen bürgerlicher Repräsentation auch einschüchterte. Tische standen auf Teppichen. Bücherstapel lagen auf anderen Teppichen im Eingangsbereich. Der große freie Raum, den man durchschreiten musste, im Gefühl beobachtet zu werden. Mehr wohnliche Atmosphäre als Verkaufsraum.

Dort habe ich die Bücher von Tilman Moser gekauft. Wie kam ich darauf? Ich erinnerte mich dunkel an das andere Buch, sah das Cover vor mir, ein Gemälde, rot, gelb, blau, in der obenen Hälfte, weißes Softcover. Ich kannte den Titel nicht mehr. Ich musste also am Abend googlen.

Das Buch hieß „Stufen der Nähe“ im Untertitel „Ein Lehrstück für Liebende“. Ich suchte damit nicht nach Verstehen meiner selbst, sondern nach Hilfe bei dem Versuch, das Chaos meiner mir so wankelmütig erscheinenden Gefühle B. gegenüber zu bewältigen. Das Verstehen meiner selbst entstand als Nebenwirkung, indem ich sein folgendes Buch „Familienkrieg“ ebenfalls kaufte.

Kam es mir zufällig in die Quere als Stapeltitel bei Atlantis?

14. Juli 2022

Gestern Helmut Böttinger in der Süddeutschen Zeitung, Besprechung von Peter Handke „Innere Dialoge an den Rändern. 2016-2021. Diese im Buch wiedergefundene Autorität, die behauptet zu wissen, was Literatur ausmache. „Eine Klärung durch Rätselhaftigtkeit, Rätselhaft werden, ‚Schleierhaftwerden‘.“

So viel Verquickung von Persönlichkeit und Regelhaftigkeit der Poesie. Das fühlt sich alles sehr nach gestern an in einer Zeit, in der in allen Lebensbereichen den Autoritäten die alleinige Definitionsmacht streitig gemacht wird; in einer Zeit, in der sich alle Stimmen Gehör verschaffen mit dem Wahrheitsanspruch ihrer einzigartigen Weltsicht.

30. Juni 2022

Je mehr Gegenwart des vergangenen Lebens ich lese, desto haltloser wird die Wirklichkeit im Jetzt. So deutlich habe ich die Flüchtigkeit von Wahrheit noch nie empfunden. Ich spüre das Nebeneinander unterschiedlicher Verhältnisse meines Ichs körperlich.

Dieses Ich muss seine Gegenwart immer im Glauben an die Unzerstörbarkeit seiner Wahrnehmungen und seines Denkens leben. Das ist nicht allein Folge des Denkens. Dieser Glaube ist ein körperlicher Zustand. Rational gibt es das Wissen um die Veränderbarkeit in der Zeit. Doch im Moment des Handelns muss das Gefühl der unhinterfragbaren Wirklichkeit absolut sein. Der Blick in die Vergangenheit greift diese Absolutheit an. Dabei zeigt sich in den Worten das vergangene Ich nur in Andeutungen. Das prägende innere Erleben meines Ichs der Vergangenheit findet sich nicht. In den jugendlichen Jahren die immer potentiell gegenwärtige Scham, Unsicherheit, Erleben des Ungenügens, Einsamkeit, unerwiderte Gefühle.

29. Juni 2022

Wenn ich meine Briefe, das Tagebuch und andere Dokumenten lese, bin ich mir selbst nicht fremd, aber den Erfahrungen und Wirklichkeitsbeschreibungen, die ich lese. Es lassen sich Bilder des Sohnes vom Vater erkennen, die sich von dem in Gegenwart erinnerten Vater unterscheiden. Ich erinner diese Bilder der Vergangenheit, aber sie sind nicht mehr mit den damaligen Gefühlen gefüllt. Im spontanen Denken der Gegenwart erscheint dieser Vater als statische Figur. Er ist im eigenen Leben für den Moment des spontanen Denkens eine Type geworden. Alles Widersprüchliche in mir ihm gegenüber hatte sich beruhigt. Ich spüre die nötige Energie, um diesen Vater von seinem Abstellplatz in meiner Biografie mitten in den ungewissen Raum des sich vollziehenden Lebens zu stellen.

28. Juni 2022

Der Blick in den Nachlass führt mich über die Vater-Sohn-Geschichte hinaus. Ich lebe mit den Verstorbenen der Koss-Familie in einem Raum. Die Briefe lassen sie auferstehen. Ich spüre die Verbundenheit untereinander. Eine Großfamilie in der Großelterngeneration gewinnt Konturen. Briefe halten all diese Menschen zusammen. Während des Krieges schrieb die Kernfamilie meines Vaters in manchen Wochen fast täglich. Nur der älteste Sohn, sein Bruder, freiwillig bei der Luftwaffe, ist für diese Häufigkeit in seinem Kriegs-Alltag zu erschöpft. Briefe werden dann Entschuldigungen, weil Briefe ausgeblieben sind. Eine andere Kultur, deren Auflösung sich Mitte der 1950er Jahre ankündigt.

In einem Brief des Sohns aus München an die Mutter wird das erste Telefonat zwischen beiden verabredet. Die Hälfte des Briefs umfasst die Verabredung von Zeit, Telefonort und Recherche-Bericht über die Bestätigung der Telefonnummer. Sie hatte ihm die Telefonnummer eines Ladens in der Nachbarschaft wohl gesagt. Er hat diese Nummer bei der Auskunft wohl überprüft. Ihm wurde nun ein anderes Ladengeschäft zu dieser Nummer genannt, als das, was er von ihr wusste. Anscheinend gab es so wenige Telefonanschlüsse, dass bei der Auskunft solche Gespräche über vermutete Angaben geführt werden konnten.

Im Brief der Mutter nach dem Telefonat offenbart sich der immer vorhandene Unterschied zwischen den Generationen im Umgang mit neuen Techniken im Alltag. Die Mutter beschreibt ihre Unfähigkeit, alles Gesagte in dieser am Telefon erlebten Form überhaupt aufzunehmen. Sie habe immer nur ja, ja, ja sagen können. Im Nachihin erst fallen ihr ausführlichere Sätze ein, die sie nun schreibt. Ein Gespräch war aus ihrer Sicht wegen ihrer Überforderung mit dem neuen technischen Gerät nicht zustande gekommen.

26. Juni 2022

Neben dem Nachlass nun auch der Blick ins eigene Tagebuch. Parallel. Zunächst Staunen über das 25-jährige Ich. Dann Stellen suchen. Der Vater. Verhältnis bestimmen. Neu staunen. Scheinbare Klarheit in den Worten. Anders erinnert. In der Erinnerung nur der Schmerz des Scheiterns und das Gefühl des Versagens, wenn ich mit ihm nicht hatte sprechen können. Die Wut sehr im Hintergrund.

Im Juli 86: „Heute morgen hat Papa angerufen, war wohl in so einem halb betrunkenen Zustand, wie sonst auch nach dem Rausch halb ausgeschlafen. Er will kommen. Denke, das auch in Zusammenhang mit dem Trinken. Konnte dazu auch gar nichts sagen, weil er eigentlich ganz nüchtern war. Hatte das Ganze aber auch vollkommen beiseite geschoben.
Vielleicht ist es ja nur ein kurzer Rückfall, wenn nicht werde ich aber was sagen. Beim letzten Mal war es ja schon so, daß ich zumindest vorsichtig, unkonkret was sagte und ihn sich herausreden ließ. Dieses Mal nicht.

Zwei Tage später: „19.00 gerade Papa angerufen, dieses Mal war er betrunken, es ist zu wahnsinnig, ich kann dann einfach nicht sofort auflegen, lasse mich auf Diskussionen ein, nehme nur seine Selbstmitleidspose an, er der Verkannte, der nun auch noch von seinem Sohn zurückgestoßen wird. Dieses Arschloch!“

Am nächsten Tag: „Papa versucht anzurufen, nahm nur kurz ab und drückte sofort auf die Gabel, besetzt, das war’s. Dieser Idiot, dieser wahnsinnige Idiot. Davon wird er nichts wissen wollen, rausreden, aber nicht mehr mit mir.
Mir wir übel, wenn ich sein betrunkenes „Ralf, Ralf“ höre, dieses Pathos des Zurückgestoßenseins von mir. Dem anderen seine Verantwortung aufbürden. Diese miese Fresse!“

Zwei Tage später: „Papa war hier, nüchtern; nach langer Anlaufzeit ihn auf das Telelefonat am Freitag angesprochen, er stehe vor einem Rätsel, sagte sonst nichts weiter, blockte ganz ab, wußte dann natürlich nicht, ob weiterbohren, noch grundsätzliche Dinge klären oder nicht. Dann aber nicht, denn wenn er nicht will, dann will er nicht, es muß schon auch von ihm was kommen.“

Ein klassischer Ablauf meines Erlebens. Den ersten Schrecken bewältigen und zugleich hoffen, es wird nicht so schlimm. Die Realität des Absturzes. Das Andauern und meine Verzweifelung. Wieder nüchtern und kein Reden möglich. Was für eine Wut in den Worten. Damals nie gezeigt. Dazu kam es erst fünf, sechs Jahres später. Immer nur als Ausbruch, wenn er betrunken war und sich meiner Wahrnehmung verschloss. Auch dem folgte die Schuld. Das Gefühl zu versagen, weil ich nur unter diesem Druck der gegenwärtigen Erfahrung seiner Trunkenheit es aussprechen konnte. Du bist betrunken. Du bist anders, die abgemilderte Form, von der ich hoffte, sie ermögliche es ihm, wenigstens zu dieser meiner Wahrnehmung ja zu sagen. In diesem Wechsel von meiner Hoffnung mit der Enttäuschung und aufwallender Wut fühlte ich nicht, wie sehr ich Angst um ihn hatte. In Ruhe war diese Angst versteckt hinter einem sachlichen Blick auf die gesundheitlichen Folgen von Alkoholismus. Abgeklärt sah ich darauf. Alles andere tief in mir weggepackt.

25. Juni 2022

Mich von Worten aus den 1960er Jahren berühren lassen. Ihm näher kommen. Doch in diesem Nachlass finden sich auch Spuren, mit denen das Kleinkind sichtbar wird. Beobachtet, beschrieben. Was ich gesagt haben soll, wird in Briefen weitererzählt. Mit diesen Krumen das Kleinkind-Ich der Vergangenheit mit einem Innenblick auf sich selbst entstehen lassen? Oder doch zurückkehren zur äußeren Erscheinung? Dem Realismus, in dem so sehr ein Teil der Wahrheit unerzählt bleiben müsste. Der Schmerz des Nicht-mehr-Wissens und des Nie-Erinnerbaren macht sich bemerkbar. So sehr sehne ich mich nach eindeutiger Wahrheit.

Ralf; Lungenentzündung
mit Brief an Tummes v. 24. 10. 64
vor ca. 10 Tagen, seit 4 Tagen fieberfrei
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..mit Brief 26.8.64
Ralf 105 cm groß
seit ca 3/4 Jahren ??? 19 kg
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Trotz allem zu finden
26.5. / Ralf entdeckt sein „ich“.

24. Juni 2022

Lorbas. So nannte er mich manchmal. Nicht oft. Ich mochte das, wenn er mich so nannte. Nichts konkretes. Nur das Gefühl beim Erleben erinnere ich. Dann war er fröhlich. Dann spürte ich seine Wärme. Dann wusste ich, er mochte es, wie ich war. Dann fühlte ich mich gut, behaglich, zu Hause. Wann? Diese Zeit muss als Familie noch einigermaßer unbelastet gewesen sein. Kindergartenalter?

Lorbas. Später nachgeschlagen. Aus dem Ostpreußischen. Von dort kam die Koss-Familie ins Ruhrgebiet. Sein Vater noch in Ostpreußen geboren. Die Familie seiner Mutter – die Kühn-Linie – ebenfalls aus Ostpreußen, die Mutter aber schon in Duisburg geboren. Nach der Geburt von Tom irgendwann mal die Familiengeschichten erforscht. Gefunden, dass diese Kühn-Familie wahrscheinlich aus Salzburg nach Ostpreußen zugewanderte Protestanten waren. Die Lottermoser. Religionsflüchtlinge. Meine nachträgliche Erklärung für die Gegenwart Salzburgs und Mozarts auf der Eupener Straße, dem Vater-Zu-Hause, bei meinen Großeltern.

23. Juni 2022

Ohne den Nachlass genauer zu sichten, kann ich das Buch nicht schreiben. Seine Briefe aus dem KLV-Lager an den Vater in Duisburg, die Mutter in Süddeutschland, den Bruder bei der Fliegerstaffel quer durch Europa. Die Briefe zurück an den Zehn- oder Elfjährigen in der „Tschechei“. So sagte er. Lohadschowitz. So würde ich den Ort schreiben. So oft genannt. Untrennbar verbunden mit ihm. So bedeutsam muss diese Zeit gewesen sein. Plötzlich ohne Eltern. So eine lange Zeit. Der Vater, der ihn kurz vor Kriegsende dort abholt, weil er ihn bei der Familie haben möchte.

22. Juni 2022

Wie einarbeiten das Wissen des Kleinkindes, das ich als Erwachsener erst erkannte? Welche Welt des Kindes soll ich entstehen lassen? Keine Erinnerungen mehr. Alles muss erfunden werden. Vorhanden nur ein Zeugnis für das Erleben dieses Kindes. Die ersten gemalten Bilder. Kopffüßler. Auf zwei oder drei Blättern die Familie. Der kleine Sohn, aber genauso groß wie der Vater, die etwas kleinere Mutter. Alle mit lachendem Mund. Auf einem der Blätter hatte der Vater aber hatte zwei Münder. Ganz selten habe ich mir diese Bilder angesehen und gedacht, bei den zwei Mündern hätte ich mich vermalt. Meine Annahme: Mir hätte die Position des ersten Mundes nicht gefallen und ich hätte einfach einen weiteren dazu gemalt. Denn ich hatte einen Kugelschreiber benutzt. Nichts ließ sich wegradieren.

Mit Ende 30 dann das Buch eines Kinderpsychologen über Kinderbilder. Der eine Satz wie ein Tausende-Watt-Spot auf dieses Bild. Kinder machen keine Fehler in ihren Bildern. Sie malen ihr Verständnis von der Welt. Ich muss meinen Vater also schon als Kleinkind mit seinen zwei Persönlichkeiten erlebt haben. Meine Möglichkeiten damals das auszudrücken, waren die zwei Mündern, mit denen er zu mir sprach.

21. Juni 2022

Wahrheit in der Erinnerung des Erlebten vs. Wahrheit als Ausdruck einer inneren Form des Erzählten. Die Gegenwart mit ihrem Hunger nach Authentizität vs. Maßstäbe der Literatur.

20. Juni 2022

Der Vater und die Mutter lebten nach der Scheidung im selben Stadtteil. Einen Kilometer voneinander entfernt. Eine Bahnlinie zwischen den Vierteln. Sie unterteilte den Stadtteil weiter. In die Hauptgeschäftsstraße des Stadtteils gingen sowohl er als auch sie. Meine Angst, dass sie sich begegnen könnten, während ich dabei bin. Erwachsen geworden war sie größer denn je. Sie begegneten sich erst, als ich Ende 20 war. Natürlich war er genau dieses eine Mal betrunken, obwohl es zwischendurch immer längere Phasen ohne Alkohol gab. Und natürlich war auch der neue Partner meiner Mutter dabei. Ich fühlte mich entsetzlich.

18. Juni 2022

Und dann will er meinem Schreiben wenig später eine Richtschnur geben mit Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“ und den Nietzsche-Worten vom Meißeln an der Prosa wie an einer Statue. Was für eine Überhöhung, die nichts mit dem zu tun hatte, was mich bewegte. Zugleich trieb er damit dem Gedicht alles Biografische aus. Was mich wiederum gegen meinen Willen erleichterte. Wieder dieses Gefühl zu versagen, zu schwach zu sein, um die eigentliche Wahrheit auszusprechen. Stattdessen mit der Frage ringen, ob ich überhaupt Talent besaß. Was er als Maßstab auffuhr, dem entsprach mein Schreiben sicher nicht. So konnte ich nicht schreiben. Also war ich vielleicht nicht gut genug. Der Alkohol war vollkommen verschwunden. Meine Erleichterung wurde ermöglicht, indem meine Ambitionen erst einmal von Grund auf angegriffen wurden.

17. Juni 2022

Ihm ein Gedicht von mir zu lesen geben. Ich war Anfang 20 und er versuchte mir beizubringen, dass ich nicht originell war. Dabei machte ich mir darüber keine Gedanken. Ich wollte ihn teilhaben lassen. Vor allem hatte ich das Gedicht so umgeschrieben, dass es mir erträglich wurde, ihm diese Worte überhaupt zu zeigen. Ging es in dem Gedicht doch ums Trinken. Von Erinnerungen. Die immer bitterer schmeckten. In einer ersten Fassung trank jemand tatsächlich etwas und sein Bewusstseinszustand änderte sich. Ich konnte ihm so etwas nicht zeigen. Es war mir unmöglich. Alles, was nur im Entferntesten an DAS Trinken und an jeglichen Alkohol erinnerte, lähmte mich in seiner Nähe.

Alleine mein Wissen, dass mein Gedicht eine andere Fassung besaß, baute eine kaum zu überwindende Hürde auf, ihm diese nächste Fassung zu zeigen. Das Trinken gab es weiter in dem Gedicht, in gemilderter Form. Und dennoch schien es mir so, als werde er durch dieses Gedicht DAS Trinken im Gedicht zuvor erkennen. Ich brauchte eine langen Anlauf.

Ich kann dieses hindernde Gefühl gar nicht genau benennen. Damals hatte ich ohnehin keine Worte dafür außer einem Urteil über mich selbst. Versagen. Ich schaffte etwas nicht, was selbstverständlich hätte sein müssen. Ich versagte dabei, ihm etwas zu zeigen. Ich wusste nicht zu sagen, warum ich das nicht schaffte. ich sah mich nur versagen. Wie lange hielt das an? Vier, fünf Jahre? Mein Versagen. „Es“ nicht ansprechen können. Ich hatte keine Worte. Ich wollte ihm sagen, du trinkst. Es aussprechen, um ihm zu helfen? Selbst das kann ich im Rückblick nicht zweifellos sagen. Nie habe ich es in dieser Zeit geschafft. Ich verlor den Kampf um die Wahrheit.

Wollte ich ihn nicht beschämen? Vor was hatte ich Angst? Was überforderte mich? Auch heute muss ich erst nur die Oberfläche beschreiben, um mich der Deutung zu nähern. Sie ist nicht selbstverständlich vorhanden.

Ich fürchtete das Trennende. Ich fürchtete seine Reaktion, wie ich sie als kleines Kind im Streit meiner Eltern immer und immer erlebte, sobald er betrunken nach Hause kam. Sein Trinken trennte. Meine Eltern voneinander. Mich von ihm. Es trennte als Zustand zunächst und im nächsten Moment wurde die Distanz noch größer, wenn die Trunkenheit von meiner Mutter benannt wurde. Sie wuchs durch das Aussprechen. Worte ließen alles noch schlimmer werden. Tief in mir gab es ein unverstandenes Wissen darum. Nach dem Trinken selbst trieb das Benennen des Trinkens meine Eltern noch mehr auseinander. Das Benennen seiner Trunkenheit ließ die Streite eskalieren. Mein Vater bestritt seinen Zustand mit heftiger Wut, die mich ängstigte. Die Angst des Kindes wurde zur Angst des jungen Erwachsenen vor jeglichem Aussprechen von Sätzen, in denen Bezüge zum Trinken und Alkohol auch nur entfernt mitschwangen.

14. Juni 2022

Kein Familienroman. Wo ist überhaupt die Familie? Im Unerzählten der Gegenwart? Die Familie ist immer schon gescheitert. Im Roman. Und darum wird beim Happy End, janz jewöhnlich ausgeblend. Tucholsky. Da schließt sich der Kreis beim Vater-Säulenheiligen.

Wobei sich die Frage stellt, gab es überhaupt ein Happy End zu einem bestimmten Moment der Geschichte des Ganzen? Oder haben sich alle das nur vorgestellt als notwendige Voraussetzung für das Beheben eines Missgeschicks? Der Ruf. Die Nachbar tuscheln schon.

11. Juni 2022

Noch einmal seine Geschichte. In seiner Geschichte ist mir das Gesellschaftliche viel greifbarer. In meiner Geschichte muss ich sie von der Psychologie erst einmal freiräumen, um das Wesentliche zu sehen. Um diesen direkten Energiestrom alles Gesellschaftlichen in die Psyche wahrzunehmen.

10. Juni 2022

Weiter die Frage, wie weit folge ich dem Vater-Leben? Die eine Geschichte wird durch die andere bedroht. Zufällig beim Stöbern in den Geschichtshörbüchern der Bücherei: „Wolfszeit“ von Harald Jähner. Der Alltag in den ersten Jahren nach dem Krieg greift mit diesem Hörbuch nach mir. Ein ausgezeichnetes Buch, das mir den geraden Weg meines eigenen Schreibens abschneidet und mich ins Dickicht führt. Ich hätte aufhören müssen zu hören.

So lebendig hatte ich ihn vor Augen als 13-, 14-, 15-Jährigen in den Trümmerstraßen von Duisburg. Dadurch rückte er mir als Kind näher. Ich hörte von 1948 und sah ihn 1944 im KLV-Lager, Kinderlandverschickung ohne Eltern, noch jünger er, dazu die immer auftauchenden Lehrernamen seiner Schulzeit. Pizzi-Schönholtz und der „alte Ahrens“. Prägende Menschen für ihn. Immer in diesem hohen Ton von ihnen sprechend. Besondere Menschen, die er im Nachhinein sehr achtete.

Immer hörte ich aber auch von diesen hohen Maßstäben an die Kunst darin. Der Musik- und Deutschlehrer Schönholz, der Deutschlehrer Ahrens. Sie standen für die große Kunst, etwas Ersehntes, Erfüllendes, aber auch mit so einem Respekt Bedachtem, dass es schier zu groß war. Alles was, sie repräsentierten, war nicht einfach ins eigene Leben zu bringen. Der weihevolle Ton. Gehörte dazu auch, ihren Maßstäben an Leistung nicht gerecht gewesen zu sein? Ich weiß das nicht. „Sammlung der Gedanken“ sein Leitthema, aufgegriffen von der Ahrensschen Aufsatzdidaktik.

5. Juni 2022

Die Scham erzählen. Ohne sie bei ihm gesehen zu haben. Näher meine Scham. Die Scham des Sohnes. Furcht vor den Begegnungen mit Freunden, wenn der Vater betrunken war. Ich erkannte darin keine Scham. Für so viele Gefühle jener Jahre ohne Wörter geblieben. Nur ein diffuses Unwohlsein. Es gab niemanden, mit dem ich sprach. Ich sprach nur zu mir. Die Beerdigung der Großtante. Der aufspringende, betrunkene Vater während der Trauerfeier, als der Sarg aus der Trauerhalle gezogen wurde. Seine Liebe darin. Sein Schmerz. Vorzeigbar gemacht. Gefühle ausdrücken können. Auch das mit Alkohol. Meine Scham, als er aufsprang.

3. Juni 2022

Eine Frage taucht auf: Gibt es auch die Vater-Geschichte vom Aufwachsen zu erzählen? In der erlebenden Perspektive des Vaters als Kind. Eine Parallelführung zweier Wirklichkeiten. Eine Vervielfältigung der beschädigten Kinder-Ichs? Der Krieg. Die Kinderland-Verschickung. Die Mutterliebe. Der Heldentod des bewunderten großen Bruders beim Absturz mit der ME 109. Der Vater, dem er es nie recht machen konnte. In diesem Erleben wäre noch mehr zu erfinden. Zu wenig Wissen über ihn als Kind und Jugendlichen.

2. Juni 2022

Schreibend immer mehr loslassen, ohne die Wahrheit des erlebenden Kindes zu verraten. Sich anvertrauen der erzählten Wahrheit. Wie alles Prozess. Dabei gehören diesem Kind gerade nur wenige Szenen, und dennoch steht es im Raum. Es beäugt mich misstrauisch. Wenn ich hinsehe. Wenn die Wörter fließen, kann ich es nicht sehen. Macht es sich nicht bemerkbar? Bin ich zu konzentriert, um hinzusehen. Habe ich das in der Hand? Ich meine, nicht.

Unerzählbares aushalten. Das noch Unerzählbare? Auch das habe ich nicht in der Hand. Es gibt das tägliche Tun. Dagegen das Schreiben im vorherigen Verstanden haben dessen, was erzählt wird. Entwurf und Ausführung.


So sehr mit den ersten Seiten beschäftigt, dass die Gegenwart bislang verblasst. In Ruhe zwischendurch allerdings manchmal kurz eine Art Lähmung, sich der persönlichen Geschichte derart tief zu widmen. Während in Osteuropa Menschen sterben in einem Krieg, der als Kampf um Demokratie und Freiheit nicht nur für die Ukraine erzählt wird. Diese Geschichte wird ausgeweitet zu einem grundsätzlichen Ringen in Europa um Freiheit des Denkens, um Werte, die auch im Westen nicht mehr ungefährdet sind. Die Erfolge von Autokraten und rechtsextremen Politikern verändern die Welt. In den Zusammenhang wird der Krieg gestellt. Während es also um das große Ganze geht, versinke ich im einzelnen kleinen Leben. Die Lähmung verschwindet. Es bleibt aber ein Sog zur Bedeutsamkeit. Von der andern Seite schiebt die Mahnung, es gibt keinen selbstverständlichen Nutzen deiner Stimme. Die Kraft dieser Stimme ist eine für die Wohlstandszeiten des Friedens. Jetzt braucht es kämpferischen Mehrwert. Die alte linke Weltverbesserungsideologie meiner Jugend macht sich als Schreibhemmnis bemerkbar.

29. Mai 2022

Damals Philip Roth. Nach den Portnoy-Anfängen schon „Sterben eines Vaters“. Ich, damals den an Lungenkrebs erkrankten und wahrscheinlich nicht mehr lange lebenden Stiefvater begleiten. Lesend. Ein Vaterverlust zur Probe, weil ich ihn nie als Vater empfunden habe und erst sein Sterben ihm mir vaterhafte Züge gab. Als Trost für ihn. Als Versuch der Sinnlosigkeit seines frühen Todes etwas ewigeres als sein Sein entgegenzuhalten. Später dann Roth „Mein Leben als Sohn“.

28. Mai 2022

Trunkenheit, Betrunken sein als Grundzustand der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Das Leben nicht anders ertragen. Der Steinhäger, der Aufgesetzte, keine Familienfeier ohne Schnapsflasche auf dem Tisch. Underberg als medizinisches Getränk, wenn zu viel gegessen wurde. Die Fotos jener Zeit aus unterschiedlichsten Familien gleichen sich. Um den hohen Tisch im Wohnzimmer sitzen betrunkene Erwachsene, rauchen zum Teil und trinken Schnaps und Bier. Die Hymnen zu diesem Zustand sang Willy Millowitsch. Das vermeintliche Karnevalslied verdeckte den Ganzjahreszustand. „Schnaps, das war sein letztes Wort. Dann trugen ihn die Englein fort“.

Willy Millowitsch,1960 Schallplattenvertrag bei Ariola, erster Titel: Wenn dieses Lied ein Schlager wird, zweiter Titel schon über Alkohol wenige Monate später: Heut’ sind wir blau.

Dritter Titel verfasst von Heino Gaze und Günther Schwenn: Schnaps, das war sein letztes Wort / Ich halt’ mich an der Theke fest. Begleitet wird Millowitsch vom Orchester Willy Hoffmann. Der von Millowitsch selbst produzierte Song erreichte im November 1960 Rang 5 der deutschen Hitparade. Hochdeutsch gesungen, wurde ab Januar 1961 in der Session populär, verkaufte sich mehr als 900.000 Exemplare. Gegen das Lied protestierte die Kirche.

Ariola mit auch heute immer gewählter Verteidigungsrede in solchen Fällen, Rückgriff auf unschuldiges Amüsement und die Geschichte. Schon Mönche brauten Bier in Klöstern

Wikipedia erwähnt offenen Brief vom März 1961 von zwei Gemeindepfarrern der evangelischen Matthäusgemeinde in Frankfurt. Der Dekan Lic. Heinrich Seesemann und der Pfarrer Karl Zeiß beschrieben den Text als „zersetzendes Machwerk, in dem der christliche Glaube lächerlich gemacht wird“. Es würde hierin der Himmel lächerlich gemacht und die Hölle verharmlost. Wenn das letzte Wort des Menschen „Schnaps“ laute, dann sei der Mensch in Ewigkeit verloren.

Schnaps war nun nicht das letzte Wort meines Vaters. Wie verhält es sich mit Arschloch, ist dann der Mensch auch in Ewigkeit verloren? Nun ja.

Das Lied gehört zu den erfolgreichsten Stimmungsliedern aller Zeiten und ist ein Evergreen. Friedel Hensch und die Cyprys coverten das Lied 1968. Als Kind immer wieder beim Karneval gehört.

24. Mai 2022

Unerkannter Schmerz machte sich bemerkbar. Immer wieder aus heiterem Himmel beim Musikhören. Ohne Bewusstsein bermerkend. Sätze des Liedtextes nahm ich auf, ohne sie bewusst zu hören. Sie berührten mich dennoch in meiner guten Laune. Die Musik hatte mich durchlässig gemacht. Etwas in mir hörte genauer zu als mein bewusstes Ich. Mir gefiel das Lied, ich hatte Spaß an einer swingenden Melodie, die mich trug und plötzlich flossen Tränen, stilles Fließen, nur Tränen, die nicht enden wollen. Ohne das Gefühl zu weinen. Irritierende Erfahrungen. Ich verstand mich nicht. Mir ging es doch gut. Ich hörte das Lied in einer Dauerschleife für eine halbe Stunde, eine Stunde. Immer wieder in diesem Glück des Liedes das Fließen der Tränen. Einfach nur fließend, haltlos. Keine Freudentränen und zugleich dieses innere Jauchzen vor Glück über die Gegenwart des Liedes. Was machte sich bemerkbar? Ich hatte keine Antwort; meinte manchmal, mich zu sehnen, ohne zu wissen, wonach und ohne es mir vollends zuzugestehen.

21. Mai 2022

Je ausdauernder ich nebenbei das flüchtig Gedachte notiere, desto mehr drängen sich Skizzen und Bilder hinein. Bislang dem Drängen nicht immer gefolgt. Dabei aber Gedanken im Moment des Software-Wechsels verloren. Also demnächst alles hier schnell schreiben? Deshalb entsteht für mich der Eindruck vom anderen Roman, dem Roman mit der unverbunden erzählten Geschichte. Die entspricht so viel mehr der Erinnerung. Erzählt das also doch die andere Wahrheit? Wann schreibe ich im Moment von sich formulierenden Worten nur für andere? Und wann schreibe ich für andere, mit denen zusammen ich mir selbst auch mein privates Ein-Mann-Publikum bin?

19. Mai 2022

Was hier entsteht, eine Erzählung des Romans oder ein anderer Roman oder eine andere Wahrheit?

18. Mai 2022

Der Geschichte mit dem Vater fehlt die Geschichte mit der Mutter. Untrennbar verbunden, doch mit dem Blick auf ihn entscheiden sich Wertungen. So neutral ein Erzähler spricht. Die Auswahl des Erzählten ist die Wertung. Dazu der Sog durch die Stimme des Kindes. Selbst wenn es nicht erzählt. Seine Unschuld in dem Miteinander bestimmt Deutungen. Das Kind braucht eine Stimme, die es in der erlebten Zeit nicht erhielt. Deshalb rückt die Geschichte des Kindes in den Vordergrund. Ein Kind ohne Stimme in der Vergangenheit. Wenn heute der Autor für das Kind spricht, verändert sich alles. Nemmt das Vexierbild. Dreht und wendet selbst, denkt der Autor und das Kind stampft wütend auf den Boden. Hört mir zu. Nicht ihm. Meine Wahrheit. Er kennt sie nicht.

17. Mai 2022

Splitter der Erinnerung. Ohne Zusammenhang. Keine Geschichte. Die Geschichte bin nur ich im Fortschreiten des Lebens. Andere sehen auf mich und werden Geschichten erzählen. Die Verbindungen fehlen. Das Sinnhafte muss erfunden werden. „Gehst du mal nach nebenan, einen Rollmops kaufen?“ Und wenn er da sitzt? Zwischen all den rauchenden Männern. Niemand wird mich beachten. Wie soll ich mich in dem Lärm der Kneipe bemerkbar machen? Diese Kneipen am frühen Abend sind immer voll, dunkel und laut. Die Männer sehen ein Kind und trinken ungerührt weiter.

16. Mai 2022

Eine Generation, die von Nino Rossi ergriffen wurde. Was war mit Louis Armstrong? Konnte man beide hören und gut finden? Dabei hieß er Nini, wie ich gerade bei Wikipedia lese.

Nini Rosso, bürgerlich: Raffaele Celeste Rosso, (* 19. September 1926 in San Michele Mondovì; † 5. Oktober 1994 in Rom). Partisan in WK2. Erst Jazz, dann kommerziellere Musik zur Unterhaltung. Im Jahr 1965 Welthit Il Silenzio. Im Mai 1965 entschloss sich Hansa, die Aufnahme als Il Silenzio (Abschiedsmelodie) auf den deutschen Markt zu bringen (#18 316). Hier war der Erfolg noch größer, sie belegte für dreieinhalb Monate (vom 1. Juli – 14. Oktober 1965) Platz eins der Singlecharts.

Ein wenig nachlesen und schon fällt mir die Melodie ein, die mich von Anfang an so unfassbar traurig machte. Sie griff mich an und fraß meine Leichtigkeit auf. Dazu das Bild vom Cover der Single. Dieser Trompeter. Da war doch ein Papagei auf der Trompete, oder? Und dann die Musiktruhe in Ruhrort. Aufgedreht, der betrunkene Vater, begeistert über die Musik, will mich mitbegeistern von einem Lied, das mich traurig macht. Oder machte es mich erst später traurig, immer in der Erinnerung an diesen betrunkenen Vater, der nicht aufhörte in seiner Begeisterung zu schwärmen und so fremd war.

15. Mai 2022

Vor sechs Jahren bereits gelesen. Nun noch einmal. Eindrucksvoll. Die ersten zwei Drittel intensiv. Im letzten Drittel verliert sich der Fokus. Inspiration.


Wieso hier flüchtige Gedanken bislang nicht als Notizen auftauchen. Sie entziehen sich mir wieder. Denn ich schreibe sie nicht auf. Der Weg zum Aufzeichnungsgerät ist zu weit, selbst wenn es als Smartphone neben mir liegt. Es braucht die offene Benutzeroberfläche mit einem Griff. Stattdessen Smartphone entsperren, App öffnen, Blog ansteuern, Notiz-Seite ansteuern. Das Beiläufige passt für mich nicht zum technischen Gerät als Voraussetzung für die Notizen. Noch nicht? Das Flüchtige für mich zur Notizbuchwelt. Old school.

Weil: Alles Getippte strebt zum Geformten hin. Auch im Smartphone. Lebenslanges Handwerkszeug die Tastatur mit dem Ziel ein Publikum zu erreichen, sei es in der Zeitung, im Blog oder als verwertbares Zwischenprodukt bei TV-Arbeit.

Für das Flüchtige brauche ich Papier und Stift. Der Gebrauch liegt mir näher für Einfälle und erste Gedanken. Die Handschrift bin ich dabei gewöhnt.

Das Medium nicht nur die „message“, sondern auch der Text.

14. Mai 2022

Immer wieder dem Vorwissen des Gegenübers entgehen, den in ihm gespeicherten Stereotypen über Väter und Söhne, über den Alkoholismus. Stereotypen, die aus Erfahrungen im eigenen Leben entstanden. Menschen, die im eigenen Umfeld immer zu viel tranken. Verwahrlosung vs. Funktionieren im System, betrunkene Obdachlose beobachten, standardisierte Erzählmuster von TV-Reportagen und Betroffenheits-Dokus im Prekariatsmilieu. Sie meinten zu verstehen in einem Zustand allgemeinen Mitleids, das mich nicht sah, weil es mich zu sehr zum Opfer machte und ihn zum Täter.

Es geht nicht um Originalität. Es geht nicht um die Sorge vor Klischees. Der Maßstab ist keiner des literarischen Marktes. Das Literarische folgt nur dem vom Seelischen durchdrungenen Philosophischen. Es geht im ersten Moment nur um die Wahrhaftigkeit jedes einzelnen meiner Sätze. Der Rhythmus des Satzes aber kann Wahrheit hervorbringen. Insofern ist die Wahrheitssuche selbst auch etwas Literarisches. Im Seelischen muss ich die Macht wahrhaftiger Worte beim Schreiben fühlen. Darum schreibe ich. Immer wieder Menschen vor Augen, mit denen ich sprach und die meinten verstanden zu haben. Während mein sicheres Gefühl mir sagte, sie folgen eigenen Mustern, eigenen Vorstellungen. Sie lassen sich nicht auf meine Stimme ein. Immer wieder angetrieben von dem Versuch, es genauer und besser zu erklären. Immer wieder dieses Gefühl, es liegt an mir, wenn sich das Gefühl meldet: Du verstehst mich nicht. Nein!

Es geht deshalb nicht nur um den Alkohol. Es geht um alles. Es geht um das ganze Leben. So viel einfacher nun mein Verhältnis von entstehendem Roman und seinen zukünftigen Lesern. Die literarische Wahrheit meiner Sätze langt. Mit dem Roman mache ich ein Angebot, in dem die Möglichkeit des Verstehens vorhanden ist. Die Macht meiner Worte. Meine Macht.

13. Mai 2022

Immer wieder die Sehnsucht, alles zu erfassen, jeden Faden dieses Geflechts, das als Wirklichkeit erlebt wird. Nur für einen kleinen Teil dieser Wirklichkeit gibt es normalerweise Worte. Deshalb diese Neubestimmung des Ganzen, jedes Element in seiner Abhängigkeit von allen anderen. Für den ersten Moment machen Verflechtungen, Abhängigkeiten, mehrfache Verbindungen jeden Satz unschreibbar. Das Lineare! Mein Widerstand ein Grollen gegen die Welt, wie sie ist. Gegen die Möglichkeiten, dieses Leben so zu erzählen, dass es unzweifelbar verständlich wird. In der unerfüllten Sehnsucht macht sich das Wirklichkeitsprinzip bemerkbar. Unerbittlich.

12. Mai 2022

Natürlich „Mein Vater war ein Trinker“. Eine der möglichen Geschichten als Song. Vater Trinker, Sohn trinkt ebenfalls. Westernhagens Stimme seit 1978 aus meinen Boxen. Das Stück heißt eigentlich „Alles in den Wind“. Erst wenig gehört in Duisburg. Was da gesungen wurde, hatte nichts mit mir zu tun. Dann in Köln. Alleine wohnen. Und unsicher werden, ob die Worte mich nicht doch meinen könnten. „Du solltest es besser wissen“ erinnerte ich gerade als einzige Textzeile neben besagter Trinker-Zeile. Ein Irrtum, in dem sich ein Teil meines Leben zeigt. Westernhagen singt: „Ich sollte es besser wissen.“ Ich wusste es besser und wusste nicht, dass ich es wusste. Weil die mich ansprechende Stimme nicht etwa lauter sprach, sondern sich als meine verkleidet hatte. „Werde bloß nicht wie dein Vater.“ Und während ich dieser vermeintlich eigenen Stimme in mir zuhörte, Gedichte schrieb und betrunken wurde, schaute ich auf der Burgenlandstraße im 3. Stock durch mein Spiegelbild im Fenster hinaus in die Nacht. Keine Gardinen. Auf gar keinen Fall Gardinen.


Das Hungern als der andere Ausdruck der Todessehnsucht. Graz. Einmal nur noch nach Graz. Sein Sehnsuchtsort in der Welt. Dahinter die andere Sehnsucht.


Sein im Krieg gefallener großer Bruder ein Teil der Geschichte? Ein Geist im Raum, der ihn rief. Am offenen Grab in der Normandie habe er gestanden. Er hätte die weißen Knochen gesehen. Und obwohl ich das nicht glaubte, erzählte er es so, dass etwas in mir ihm vertraute. Aus einem Grund, den ich ich nicht kannte, konnte er dieses unglaubliche Geschichte erlebt haben.

11. Mai 2022

Reicht das Schreiben selbst als Ziel meiner Hoffnung? Kann das mir eine Lösung sein, damit ich den wahrhaftigen Blick durchhalte, nichts beschönige. Wenigstens ich rette mich selbst. Darin steckt der Schmerz. Darin steckt die unmögliche Geschichte. Darin steckt das Aufgeben aller idealen Vorstellungen von der Welt. Nur ich komme in der Geschichte einigermaßen lebendig raus. Der wahrhaftige Blick. Es gibt keine gemeinsame Geschichte. Er konnte sie nicht mit mir zusammen erzählen. Wie schwer es mir fällt zu schreiben, er verweigerte mir eine gemeinsame Geschichte. Ich habe so viel Verständnis. Wo ist sein Verständnis für mich? Das verwirrt mich immer wieder, weil ich das nicht aussprechen kann. Ich denke, ich tue ihm unrecht.

Es gibt nur eine gemeinsame Geschichte, die ich nicht in Worten erinnere. Wenige Fotos aus den 60ern deuten diese gemeinsame Geschichte an. Wenige Fotos, von ihm aufgenommen, zeigen mich ganz unbeschwert, glücklich, lachend, fröhlich. Vor ihm. Mein Körper erinnert das. Woher wäre sonst meine erwachsene Sehnsucht nach wahrhaftiger Begegnung entstanden? Ich hatte als Kind seine Seele berühren können. Alles Gute in ihm. Ich hatte ihn als ganzen Menschen gesehen. Dieser Begriff von einem utopischen Zustand, in dem ich mich einst befunden haben muss.

Später gibt es eine gemeinsame Geschichte nur anhand von äußeren Begebenheiten in einer zusammen verbrachten Zeit. Der Ort vereinte uns. Das ist die Oberfläche. Das ist die mindeste Voraussetzung für das Gemeinsame. In dieser Zeit getrieben durch meinen Wunsch sich zu verstehen, ihm beizustehen und dadurch eine Harmonie im Leben herzustellen, die auch mich mit ergreifen konnte.

Die Hoffnung macht mich aus. Ich höre nicht auf zu hoffen. Aber nicht der Inhalt der Geschichte hält meine Hoffnung lebendig. Dort herrscht zunächst Kühle, um jeden Winkel dieser Wirklichkeit wahrhaftig wahrzunehmen. Im Moment des Beschreibens entsteht mit der Schärfe des wahrhaftigen Blicks das dazu gehörige Gefühl. Zu oft im Hintergrund der Schmerz. Wie sehr stehe ich mir selbst im Weg mit meinem Wunsch nach einem guten Ende? Keine Dopplung der Wirklichkeitsschrecken. In diesen Anfängen das Tasten nach einer Hoffnung, die auch Leser teilen können. Die Wirklichkeit: Arschloch als letztes von ihm zu mir vor sich hin gesprochene Wort.

Der Stil als Rettung. Der Kunstgenuss als Ausweg.

10. Mai 2022

Wie unpassend ich das Wort Co-Abhängigkeit empfand und wie sich dieser Teufelskreis des Verdachts drehte. Immer wieder der Zweifel, die Wahrheit nicht wissen zu wollen. Sich nicht zu unterscheiden vom Vater. Der eine trinkend, der andere dauerrettend. Dabei das bleibende Unwohlsein gegenüber dem Wort. Immer als Urteil eines anderen empfunden. Immer als Wertung. Nie als eine Hilfe.

9. Mai 2022

Viele Szenen des Erlebens zu einer wahren Geschichte verdichten. Keine Bekenntnisliteratur! Ich hänge diese zwei Worte über den Schreibtisch.

8. Mai 2022

Handlung? Der Still ist alles in diesem Buch. Das führt die frühe Begegnung mit Buffon fort. Le style, c‘ est l’homme. Schon im Studium aufgemerkt. Dieser umfassende Stil-Begriff von Buffon. Nicht nur die Sprache auf dem Papier. Der Stil erschafft den Menschen über das Sprechen hinaus. Der Stil der Sprache bestimmt zugleich alles andere. Das Äußere. Der öffentliche Auftritt. Das Ausfüllen von Rollen. Dahinter immer der Stil der Sprache. Dabei: Stil bedeutet Genauigkeit und Wahrhaftigkeit dem gesamten Empfinden gegenüber.

7. Mai 2022

Solche stehenden Worte. In winzigen Varianten seit Jahren immer wieder im Sinn:
An der Wand. Ist das Blut? Woher? Von ihr. Meine Mutter hatte es noch nicht bemerkt. Sie musste sich verletzt haben.
Fragen! Sie fragen:
„Was ist das?“
„Wo?“
Ich zeigte auf den Fleck an der Tapete. Sie berührte den roten Fleck kurz, sah sich ihre Hand an und nahm den kleinen Finger in den Mund.
„Ist nichts“, sagte sie. „Das ist nur ein bisschen Haut auf.“
Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein.

5. Mai 2022

Ein Arbeitstitel. Der bestimmt die erste Richtung. Änderbar und doch. Weite und Offenheit. Der Arbeitstitel schafft Freiheit und gibt Halt. Sprich mit mir. Verlogen und Erfunden. Gib mir. Verstecken. Zu viel Gefühl zur falschen Zeit. Zu wenig Gefühl. Fühl das, was ich bin. Vater Liebe. Vatersuche. Vaterangst. Warten auf den Schlüssel. Tapetenblut. Taub mit Zwang. Folge. Jan. Der taube Jan. Muschelessen in der kleinen Kneipe. Ich wäre so gern wie du – das Kindergefühl. Egal, was die Menschen sagen, ich liebe dich. Egal, wie du dich veränderst, wenn du trinkst. Meine Kinderliebe. Werde bloß nicht wie dein Vater. Übernommen aus den belauschten Erwachsenengesprächen. Der ist aber groß geworden. Gut in der Schule? Was will er denn mal werden. Er soll machen, was ihm Spaß macht. Hoffentlich wird er nur nicht, wie sein Vater.

4. Mai 2022

Keine Bekenntnisliteratur. Nicht das Schwere alleine. Mehr als den Schmerz. Diese Hoffnung. Dieses Hoffen. Das ist das Zentrum. Das Gelingen. Es hilft nur die Form. Die Geschichte – Mich – rettet weiter nur die Form. Ohne Form gibt es mich nicht. Alles zerfließt. Es gibt kein Ich mehr, das schreiben kann. Es gibt keine entäußerte Figur, die schreiben kann. Es gibt keinen Autor, der alles weiß. Den schon gar nicht. In seinem Kopf sein. Das ist er. Durch mich. Wahr. Welch Sehnsucht. All das während das Sachbuchprojekt durch Corona sich verzögert. Die Folgen des Infekts vom November immer wieder spürbar. Frühe Erschöpfung so nah.

3. Mai 2022

Seit langen Jahren immer wieder dieses Nachdenken über die passende Geschichte. Nie schreiben können, als er noch lebte. Die erste große Befreiung eine Kurzgeschichte. Später Lyrik. Jetzt eine wahre Geschichte, meine wahre Geschichte gegen seine, die er nie erzählte, sondern immer nur lebte, indem er Wahrnehmung bestritt. Mit nicht endender Kraft bis zu seinem Tod lebte er ein Leben in seinem Kopf mit anderen Erzählungen gegen die offensichtliche Wirklichkeit an.